Einleitung

Über den Rheingauer Dialekt, hierzulande auch Platt genannt

„Der Dialekt lebt“. Diese Aussage ist oft zu hören und zu lesen, und gewiss ist er nicht tot; der Heimatliebe sei Dank. Aber so ein richtiges Vollblutleben ganz aus eigener Kraft scheint er doch nicht mehr zu führen. Anders bedürfte er keiner sprachpflegerischen Hilfestellung, um sein Schwin¬den zu hemmen; Hilfestellung in Form von Büchern wie dem hier vorliegenden oder eines Mundartvereins. Sie kommen eben gerade auf, wenn seine Bedeutung im Alltag schwächer wird, so dass nostalgische Mühewaltung sich seiner annimmt.

Diese Situation hat verschiedene Ursachen. Sie greifen ineinander, weshalb ihre Gewichtung nicht ganz einfach ist.

Da haben wir zunächst die weit verbreitete Auffassung, der Dialekt sei ein Soziolekt, also eine von der sozialen Schicht abhängige Sprachvariante. Die Vertreter dieser Auffassung wollen damit vor allem ausdrücken, dass er etwas nur für die Unterschicht sei. Dem ist indes nicht so, und die Dialektsprecher im Rheingau sollten sich von dieser holzschnittartigen Sichtweise genau so wenig beeindrucken lassen wie die anderer Regionen, man denke nur an Bayern, Schwaben oder die Waterkant. Freilich gibt es von der Hochsprache bis zum Dialekt und ebenso innerhalb des Dialekts zahlreiche Abstufungen, die sich allerdings überschneiden. Bis Anfang / Mitte des 20. Jh. war die Alltagssprache der Landwirte, Schiffer, Tagelöhner und Winzer in Stall und Familie sicher die von der Hochsprache am weitesten entfernte und durch Wortwahl wie Betonung am deutlichsten unterschiedene Variante. Diese Kreise hatten keinen Bedarf an weiträumiger Kommunikation, wie sie nur die Schriftsprache ermöglicht. Die nächste Stufe, ein wenig geglättet, mag beim Arzt, Apotheker, Pfarrer, einheimischen Geschäftsleuten und Freiberuflern, also gebildeteren Leuten zu finden gewesen sein, die vielleicht auch mit Publikumsverkehr zu rechnen hatten. Aber weder das gehobene Bürgertum noch der regionale Adel verschmähten den Dialekt. Man denke nur an die Familie Brentano und ihren berühmtesten Gast, den Geheimrat Goethe, auch wenn die aus Frankfurt kamen. Beim förmlichen Umgang mit Auswärtigen, seien es Kunden, Gäste oder vorgesetzte Amtspersonen, befleißigte sich der betroffene Personenkreis einer Variante, von der er hoffen konnte, dass sie akzeptiert wird – Hochdeutsch mit Einsprengseln oder eben Hochdeitsch met Knoorze. Das kann zu kuriosen Blüten führen. Von der Urgroßmutter des Autors etwa, Hoteliers- und Metzgersgattin in Assmannshausen (1858 - 1936) ist überliefert, dass sie sehr spezifisch „rückübersetzte“. In dem Bewusstsein, dass das lange a (etwa in Draht) zu o wird und das pf (etwa in Kopf) zu pp, entwickelte sie vornehm Brot zu Brat und Lappen zu Lapfen zurück. Das gleiche Bemühen wird erkennbar bei „sagten Sie noch eppes?“, wobei besonders erheitert, dass ebbes kunstvoll mit hartem pp aufgehübscht wird. In diese Kategorie gehört auch die Warnung an die Hausgehilfin, die im Begriff ist, auf eine wacklige Leiter zu steigen: „Anni, bleiben Sie besser da hunten“ oder die Bemerkung „Ich habe nicht ehnder dran gedenkt“. Wenn der Stammtischbruder sich veranlasst sieht, gestelzt zu reden, sagt er am Ende „als ich gestern nach Hause kam, war meine Frau noch offen“, statt, wie zu seinesgleichen: wie ich gesdern haamkomme bin, war mei Fraa noch uff.

Seit langem arbeitet ein großer Teil der werktätigen Bevölkerung außerhalb des Rheingaus, was vermehrten Kontakt mit Sprechern anderer oder ohne Mundart mit sich bringt. Hinzu kommt das generationenlange Bestreben von Pädagogen, den Kindern das ‚richtige’ bzw. ‚feine’ Sprechen beizubiegen. Das hängt natürlich eng damit zusammen, dass geschriebene Sprache im Allgemeinen eben hochdeutsch ist. Geschriebener Dialekt ist recht selten und eigentlich nur in gezielten Publikationen angebracht. Und in der Tat mag verinnerlichter Dialekt für das eine oder andere Kind eine zusätzliche Hürde beim Erwerb hochsprachlicher Schreibfähigkeiten darstellen. Wenn das Kind fragt, wie es dies oder das denn schreiben solle, und der Lehrer antwortet: „So, wie man es spricht“, dann sind Missverständnisse nicht fern. Außerdem sind Eltern wie Lehrer heutzutage oft mobil und haben kaum noch Gelegenheit, so heimatnahe Sprachbildung zu betreiben, dass sie zur Dialektpflege etwas beitragen können. Um so eher sollten sie angehalten werden, das zu tun; es ist ein Fehler, zu glauben, der Deutschunterricht habe die Aufgabe, die Mundart zu verdrängen.

So bodenständig, manchmal auch recht derb, wie der Dialekt ist, drückt er sich in kurzen Sätzen mit wenigen Nebensätzen aus, konkret und direkt. Er hat dadurch die Fähigkeit, falsches Pathos zu entlarven und dient so als Schutzbarriere für vieles, was ‚von oben’ kommt. Die Hochsprache ist demgegenüber differenzierter und benutzt kompliziertere Satzkonstruktionen, ist aber daher auch unpersönlicher. Nur wird das z.B. in Aufsätzen besser bewertet. In ihrem Bemühen sind sich die Lehrer mit den Eltern einig, die eben vermeiden wollen, dass ihre Kinder anderwärts als provinziell angesehen werden. Im Übrigen wird man zu¬geben müssen, dass einige Berufe für Dialektsprecher nicht recht geeignet erscheinen; Nachrichtensprecher im Rundfunk etwa oder Regierungssprecher in Berlin. In der Politik und in zahlreichen Berufen, in denen viel geschrieben wird, finden sich oft Vorgesetzte, die Wert auf elaborierte Sprache legen; mag dies auch die Gefahr blutleerer Worthülsen in sich bergen.

Schließlich gibt es vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etliche Einflüsse, die sich auf die Stellung des Dialekts auswirken. Allen voran ist der einer kleinen Völkerwanderung ähnelnde Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen zu nennen, gleich danach der volksbildende Einfluss von Radio und Fernsehen, endlich moderne Mobilität und jüngste Globalisierung. Was die durch das Internet ins Leben gerufenen neuen Kommunikationsvarianten mit sich bringen werden, ist noch nicht zu überblicken; es wird aber den Dialekt wohl kaum stärken.

So kommt es, dass im Familien- und Freundeskreis vielleicht noch zu zwei Dritteln, bei der Arbeit höchstens noch zu einem Drittel Dialekt gesprochen wird. Im Rheingau ist er in den Höhengemeinden am lebendigsten, im Übrigen schwindet er mit der Größe des Wohnorts.

All das bringt den Dialekt nicht zum Verschwinden. Aber es verwandelt ihn. Er verliert die Eigenart, erste oder gar alleinige Grundlage des Spracherwerbs zu sein. Vielfach wird er nur noch gezielt und spielerisch eingesetzt. Lokale Unterschiede werden abgeschwächt, regionale über größere Gebiete hinweg vereinheitlicht. Für den Rheingau bedeutet das die Eingliederung in einen Regiolekt, eine umgangssprachlich gemäßigte südhessische bzw. Rhein-Main-Mundart, ein Honoratioren- oder Hesselbach-Hessisch, wenn man so will. Gerade in dieser Situation erscheint es angebracht, sich der Fülle sprachlicher Feinheiten, Spielarten und Besonderheiten der Rheingauer Zunge bewusst zu bleiben und sie zu nutzen. Das könnte geschehen, indem wir im Alltag den Dialekt benutzen und uns des Hochdeutschen nur für die überregionale Verständigung bedienen. Die Schweizer bieten hier ein gutes Beispiel.


Schon der große Gelehrte Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) sagte 1820 in seiner Abhandlung über Begriff und Wert des vergleichenden Sprachstudiums:

„Mit der erwachenden Lust an der Sprache … würde auch der stolze Ekel hinwegfallen, mit dem noch so häufig jetzt auf Provinzial- und Volkssprachen herabgesehen wird, und welcher den Keim des Hinsterbens aller Tüchtigkeit und Lebendigkeit in der Sprache und Nation in sich trägt. Dadurch würden die höheren Stände und das Volk einander näher treten, die Kultur würde eine gesundere Richtung erhalten, und man würde bei dem Volke williger für die Veredlung seiner Sprache Sorge tragen, wenn man anfinge ihre Frische, Innigkeit und Derbheit liebzugewinnen.“

Wohlan denn …